200 000 demonstrieren und keiner merkt’s

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Nach langem Gezeter haben sich die Länder der Europäischen Union in der letzten Woche auf dem Gipfel in Lissabon darauf geeinigt, den gescheiterten Europäischen Verfassungsvertrag in leicht veränderter Form als »Reformvertrag« zu unterzeichnen. Natürlich wurde in der Presse darüber ausführlich berichtet, auch wenn nicht alle euphorisch von einem Durchbruch oder gar Sieg für Europa schrieben.

Davon, dass in Lissabon während des Gipfels 200 000 Menschen einem Aufruf der portugiesischen Gewerkschaft CGTP-IN gefolgt waren und für ein »soziales Europa« und gegen das »neoliberale« Vertragswerk demonstrierten, darüber berichtete die Presse kaum.

Thomas Rupp hat dazu im EUobserver einen lesenswerten Kommentar verfasst. Per Google-Suche fand er heraus, dass auf Englisch nur das News-Portal EUbusiness, die ungarische Javno und Aljazeera darüber berichteten, auf französisch Le Monde und die chinesische Nachrichten-Agentur Xinhua, auf deutsch der Schweizer Tagesanzeiger und der österreichische Kurier – keine einzige Zeitung aus Deutschland.

Natürlich muss man davon ausgehen, das nicht alle Nachrichten bei Google News erfasst werden, aber im Vergleich zu den Nachrichten über den EU-Gipfel und die Verabschiedung des »Reformvertrags« ist das Bild eindeutig.

Ein Totschweigen, das Bände spricht – vor allem wenn man es in Beziehung setzt zu dem, was die Presse sonst so schreibt. Der österreichische Standard berichtete lieber von einer Demonstration von 200 bis 300 europhoben Rechtsradikalen in Paris, wozu Rupp bemerkt:

Isn’t the message clear? Only a handful of loonies are fighting against this historical treaty.

Jochen Bittner verfasst in der Zeit einen Kommentar unter dem Titel Gipfel der Stille und muss sich von einem Leser die Frage gefallen lassen, warum man in den Medien nichts über die Demonstration von 200 000 Menschen gegen den Vertrag erfährt.

Die Antwort ist klar: Offensichtlich ist die Stimme von 200 000 friedlichen Demonstranten zu leise, um von der Presse gehört zu werden. Wenn es nicht zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt, ist so eine Demo keinen Bericht wert.

In diesem Fall kommt aber noch dazu, dass die Anliegen dieser Demonstration der Presse nicht in den Kram passen. Denn eine Kritik an dem Vertragswerk, die sich nicht auf die Ressentiments euro- und xenophober Dumpfbacken zurückführen lässt, verlangt danach, sich mit dem Vertrag inhaltlich auseinanderzusetzen. Und die Zeit, mehrere hundert Seiten Vertragstext zu lesen, haben Journalisten einfach nicht.

Rupp schließt seinen Kommentar mit den Worten:

As usual the Heads of States and Governments congratulated themselves after they agreed on the re-labelled EU Constitution.
They boasted that they have managed to get over an institutional crisis, but in fact they just increased the EU’s democratic crisis by completely avoiding the citizens. And obviously you should not count too much on the mainstream media to do anything about it.

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Kategorien Europa, Demokratie