Der Streit um offene IT-Standards

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In den Streit darum, welche Anforderungen ein Dateiformat erfüllen muss, damit es als »offener Standard« für den Dokumentaustausch gelten kann, ist in den letzten Wochen und Monaten einige Bewegung gekommen. Insbesondere innerhalb der verschiedenen Entscheidungsgremien der Europäischen Union scheinen die Meinungen darüber, was ein »offener Standard« ist, weit auseinander zu gehen.

Gegenstand des Streit ist das European Interoperability Framework (EIF), eine Art Leitfaden für EU-Behörden, der demnächst in einer neuen Version erscheinen soll. EIF Version 1.0 enthielt eine sehr klare Definition des Begriffs »offener Standard«, die vielen interessierten IT-Unternehmen wohl eindeutig zu weit gegangen ist:

To attain interoperability in the context of pan-European eGovernment services, guidance needs to focus on open standards. The following are the minimal characteristics that a specification and its attendant documents must have in order to be considered an open standard:
– The standard is adopted and will be maintained by a not-for-profit organisation, and its ongoing development occurs on the basis of an open decision-making procedure available to all interested parties (consensus or majority decision etc.)
– The standard has been published and the standard specification document is available either freely or at a nominal charge. It must be permissible to all to copy, distribute and use it for no fee or at a nominal fee.
– The intellectual property – i.e. patents possibly present – of (parts of) the standard is made irrevocably available on a royalty-free basis.

Im November 2009 hat der niederländische Journalist Brenno de Winter einen Entwurf der Europäischen Kommission für eine Version 2.0 des EIF veröffentlicht, der unter anderem den folgenden Absatz enthielt:

European public administrations need to decide where they wish to position themselves on this continuum with respect to the issues discussed in the EIF. The exact position may vary, on a case-by-case basis, depending on their needs, priorities, legacy, budget, market situation and a number of other factors. While there is a correlation between openness and interoperability, it is also true that interoperability can be obtained without openness, for example via homogeneity of the ICT systems, which implies that all partners use, or agree to use, the same solution to implement a European Public Service.

Im Grunde besagt dieser Absatz, dass sich Interoperabilität auch dadurch herstellen lässt, dass man bestehende Software-Monopole akzeptiert – und damit zementiert.

Wie das konkret aussieht, lässt sich sehr schön an der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen beobachten. Diese EU-Institution verpflichtet Personen, die für sie arbeiten, für ihre Beiträge Microsoft-Word-Vorlagen zu verwenden. Da diese Vorlagen VBA-Makros enthalten, deren Verwendung verpflichtend ist. lassen sie sich mit keiner anderen Software als Microsoft Word bearbeiten. Und weil VBA-Makros selbst zwischen verschiedenen Word-Versionen nicht kompatibel sind, gibt es drei verschiedene Vorlagen jeweils für eine bestimmte Version von Microsoft Word. Da die aktuelle Version von Microsoft Word für Mac VBA-Makros nicht mehr unterstützt, bedeutet dies faktisch auch eine Verpflichtung auf Microsoft Windows als Betriebssystem. Jetzt wissen wir, dass das Geld, das Microsoft an die Europäische Union zahlen musste, keine Strafe war, sondern ein Honorar für die tätige Mithilfe der Europäischen Union bei der Festigung der Marktstellung von Microsoft in Bereich der Textverarbeitung und der Betriebssysteme.

Der durchgesickerte Entwurf des EIF Version 2.0 ist also vor allem ehrlicher, weil er eine Politik bestätigt, die sich schon vorher nicht um das EIF Version 1.0 geschert hat. Und dass Software-Anschaffungen in Millionenhöhe nicht öffentlich ausgeschrieben werden, ist ja anscheinend auch in anderen Ländern üblich, etwa in der Schweiz, wo das Bundesverwaltungsgericht diese Praxis kürzlich für legal erklärt hat.

Allerdings scheinen nicht alle in der Europäischen Union bereit zu sein, auf die enge Defintion von »offenen Standards« zu verzichten und sich mit »de-facto-Standards« zufrieden zu geben oder durch Patente geschützte und damit kostenpflichtige Standards zu akzeptieren. In einer Rede vor dem OpenForum Europe am 10. Juni 2010 hat die EU-Kommissarin für die Digitale Agenda Neelie Kroes ihre Zielsetzungen für das EIF Version 2.0 umrissen. Sie erklärt zwar ebenfalls, dass es »verschiedene Grade von Offenheit« gebe, aber sie stellt klar, dass durch eine unabhängige Standardisierungsorganisation gepflegte Standards den Vorrang vor proprietären Lösungen haben sollen sowie offen Standards im Sinne des EIF Version 1.0 den Vorrang vor kostenpflichtigen Standards im Sinne des FRAND (“Fair, Reasonable and Non-Discriminatory”).

Gegen Ende ihrer Regel verweist sie auf die “Comply or Explain”-Policy der Niederlande:

For me, it is a fundamental tenet that public administrations spending tax-payers’ money should opt for the least constraining solution that meets the requirements for a given need. Such a rule, as the default, would shield public authorities from the dangers of long-term lock-in. It would also ensure competition between suppliers for follow-up contracts and for services. Opting for closed solutions would be possible, but on the basis of a clear justification, rather than because it was the easy option. Several Member States have comparable policies in place, some of which have actually been inspired by the old EIF. For example, the “comply or explain” policy in The Netherlands. In my view the Commission has a unique opportunity with the adoption of the EIF version 2 to reaffirm its lead in this area.

Noch klarer äußert sich Bundes-CIO Cornelia Rogall-Grothe in einem Interview mit der Computerzeitschrift c’t.

Offene IT-Stanards spielen eine sehr große Rolle, weil wir meinen, dass mit offenen IT-Standards ein Höchstmaß an Interoperabilität zu erreichen ist. Auch denken wir, dass wir nur mit offenen Standards weitestgehende Herstellerunabhängigkeit erreichen und damit Risiken vermeiden können. Besonders im Austausch mit den Bürgern ist dieser Punkt wichtig, weil wir niemanden zum Kauf bestimmter Produkte nötigen wollen, nur damit er mit den Behörden kommunizieren kann.

Da drängt sich natürlich die Frage auf: Ist die elektronische Steuererklärung ELSTER inzwischen auch mit anderen Betriebssystemen als Microsoft Windows möglich? Auf den Download-Seiten gibt es zumindest nur Downloads für Betriebssysteme des Herstellers Microsoft. Immerhin wird die Bevorzugung von Microsoft auf einer eigenen Seite zu Linux und Mac umständlich gerechtfertigt.

Weiter mit Frau Rogall-Grothe:

Im Rahmen von SAGA stellen wir nur Mindestanforderungen an die Offenheit von Standards oder – allgemeiner gesprochen – von Spezifikationen. Wir möchten, dass diese vollständig publiziert sind und ungeschränkt genutzt werden können, und zwar dauerhaft … Umso wichtiger ist es, dass eine Nutzung von Spezifikationen nicht durch Urheberrechte oder lizenzrechtliche Bestimmungen eingeschränkt wird …

Ein besonders schöne Formulierung ist der Hinweis auf das hohe Maß an »kreativer Inkompatibilität« zwischen verschiedenen Office-Anwendungen in Bezug auf die beiden standardisierten Dateiformate ODF (OASIS Open Document Format, ISO/IEC 26300:2006) und OOXML (ECMA-376, ISO/IEC 29500-1:2008).

Eine ganz andere Position vertritt da Joaquín Almunia, Kommisar für Wettbewerbspolitik und Vize-Präsident der Europäischen Kommission. In einer Rede vom 7. Juli 2010 setzt er sich offensiv für FRAND-Standards und interpretiert »Offenheit« als transparente Offenlegung von Immaterialgüterrechten an diesen Standards:

The starting point is transparency: if technology is to be incorporated into a standard, then participants that own intellectual property that covers that technology should disclose their ownership. Without transparency, efficient decisions cannot be made.
For a standard to serve its purpose there should be a commitment to license on fair, reasonable and non-discriminatory terms. If so called “FRAND commitments” have been given, they should be adhered to. Moreover, those standardisation bodies that require full disclosure of the proposed terms and conditions of licensing can be assured that they will not infringe EU competition law by doing so.

Mag sein, dass die Nellie Kroes’ Rede vor dem OpenForum Europe nur der Beschwichtigung diente. Wahrscheinlicher scheint mir, dass noch klare Differenzen und heftige Kontroversen um die Neufassung des European Interoperability Framework gibt – innerhalb der Europäischen Kommission, zwischen den verschiedenen Mitgliedsländern und innerhalb des Europäischen Parlaments. Es lohnt sich deshalb diese Debatte auch in der Öffentlichkeit stärker publik zu machen.

Denn die Frage, ob unsere IT-Infrastuktur durch kosetnpflichtige Spezifikationen bzw. de-facto-Standards globaler Unternehmen geprägt wird oder aber durch wirklich offene Standards, betrifft uns alle. Wie schrieb Michael Kurzidim vor drei Jahren in der Zeit so schön:

Denn beim Kampf um Dateiformate und Systeme geht es um mehr als einfache Textdateien und Präsentationen. Es geht um den gesicherten Zugriff von Firmen, Regierungen und Privatleuten auf all ihre gespeicherten, aktuellen und zukünftigen Daten. Es geht um die Zukunft privater, staatlicher und betrieblicher Archive – und darum, ob der Schlüssel zu all diesen Daten besser bei Bill Gates liegt oder in der globalen Community der Open-Source-Szene.

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Kategorien Europa, Offene Standards