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לא תשא את שם יהוה אלהיך לשוא
כי לא ינקה יהוה את אשר ישא את שמו לשוא
(Ex 20,7 = Dtn 5,11)

Das Gebot, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen, dürfte heutzutage das am wenigsten geachtete Gebot von allen sein. Bei den zehn Geboten denkt jeder zuerst an „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht ehebrechen“. Die ersten drei Gebote spielen im öffentlichen Diskurs, in dem die zehn Gebote als eine Art ethischer Grundkonsens herhalten müssen, ohnehin keine Rolle. Aber dass es darin irgendwie auch um Monotheismus und Bilderverbot geht, dürfte den meisten noch geläufig sein. Aber den Namen Gottes missbrauchen?

Es gab mal eine Zeit, da hat dieses Gebot dazu geführt, dass man den Namen Gottes gar nicht mehr aussprach, sondern statt dessen einfach von „dem Herrn“ oder „dem Namen“ gesprochen hat. Spätestens seit die Einheitsübersetzung zur Grundlage der liturgischen Texte der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum gemacht wurde, ist es damit vorbei. Nun muss man gerade in der Osterliturgie damit leben, dass der Name Gottes an allen unmöglichen Stellen ausgesprochen wird.

Die Vermeidung des Gottesnamens mag vielen als bloßes Ritual erscheinen. Aber die fehlende Achtung vor dem Namen Gottes im Gottesdienst korrespondiert mit einem zunehmenden Missbrauch im politischen Bereich.

Es ist fast unglaublich, was Politiker und fromme Gruppen meinen, alles im Namen Gottes vertreten zu müssen. Ich denke da vor allem an diejenigen, für die sich die zehn Gebote ohnehin auf ein einziges reduzieren lassen: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Der Prototyp dafür ist George W. Bush. Seine Berater konnten ihn zwar gerade noch daran hindern, weiter von einem „Kreuzzug“ gegen den Terror zu sprechen (womit er nur die Klischees in den Erklärungen Osama bin Ladens bestätigt hätte). Aber er hat keine Skrupel, einen völkerrechtswidrigen Krieg zu führen, Gefangene foltern zu lassen und gegen jedes nationale und internationale Recht fest zu halten, gezielte Falschinformationen zu verbreiten usw. – und das alles im Namen Gottes, “with God on his side”. Solange er die Familienwerte hochhält und keinen Ehebruch begeht, bleibt er für die “Moral Majority” trotzdem der einzig wählbare Präsident.

Diese Leute sprechen zwar den Namen Gottes nicht aus, aber mit ihrem zur Schau getragenen Bewusstsein, „Gott auf ihrer Seite zu haben“, missbrauchen sie den Namen Gottes tatsächlich, weil sie ihn auf etwas Wahnhaftes tragen: auf eine Ideologie, die man wohlwollend als extrem verkürzte Fassung christlicher Moralvorstellungen begreifen könnte, die aber im Endeffekt mit einem im Dekalog begründeten Ethos nur wenig zu tun hat.

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Kategorien Fundamentalismus, Theologie

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Dan 5,7 in der DejaVu Sans

Die Zahl der frei verfügbaren Schriftarten für klassisches und biblisches Griechisch ist inzwischen schon recht groß. Nur an serifenlosen Schriften, die auch am Bildschirm gut lesbar sind und sich deshalb z. B. für Internetseiten eignen, mangelt es noch. Jetzt ist eine dazu gekommen.

Dan 5,7 in der DejaVu Sans

Die Schriftart heißt DejaVu. Und der Name ist Programm. Irgendwie hat man sie schon gesehen. Kein Wunder. Denn sie basiert auf der Bitstream Vera, die selbst wiederum die kostenlose Variante zur Bitstream Prima ist. Noch dazu kann die serifenlose Variante, die Prima/Vera/DejaVu Sans, eine Ähnlichkeit zur populären Verdana nicht verleugnen, was jedoch daran liegt, dass alle diese Schriftarten die Frutiger zum Vorbild haben, wobei sich die Prima/Vera/DejaVu sogar noch enger an dieses Vorbild hält. Noch dazu ist die Frutiger einer der einflussreichsten und am häufigsten kopierten Schriftentwürfe überhaupt. Erst jüngst ist Microsoft mit dem Versuch gescheitert, sich das Design der Segoe, einer besonders exakten Kopie der Frutiger, als geistiges Eigentum schützen zu lassen.

Die Vera hat Bitstream für das Gnome-Projekt unter einer sehr großzügigen Lizenz zur Verfügung gestellt, die es nicht nur erlaubt, die Schriftart kostenlos weiterzugeben, sondern sie auch zu verändern und zu erweitern, sofern man das Ergebnis unter einem anderen Namen veröffentlicht.

Das war auch dringend nötig. Denn so gut die Vera auch sein mag, hat sie doch einige Macken. So beschränkt sich ihr Zeichenumfang auf das, was für westeuropäische Sprachen nötig ist. Außerdem gibt es keine echten Kursiv-Schnitte, sondern nur schräg gestellte Zeichen für die serifenlosen Varianten und gar nichts für die Variante mit Serifen.

Deshalb sind schnell verschiedene Projekte entstanden, die sich darum bemüht haben, diese Mankos zu beseitigen. Inzwischen laufen alle diese Bemühungen im DejaVu-Projekt zusammen. Seit Anfang 2006 bietet die DejaVu neben umfangreichen lateinischen Sonderzeichen, der internationalen Lautschrift IPA und dem kyrillischen Alphabet auch den vollständigen griechischen Zeichensatz einschließlich der für klassisches „polytonisches“ Griechisch nötigen Akzente und Sonderzeichen.

Charakteristik

Anders als die lateinischen Lettern sind die griechischen Zeichen der DejaVu Sans alles andere als ein Dejavu. Sie unterscheiden sich deutlich von den griechischen Zeichen der Verdana und der Frutiger Linotype (abgesehen davon, dass diese beiden Schriften nur für monotonisches Griechisch geeignet sind). Unterschiede gibt es auch zur Arev Sans, einer anderen Schriftart, die die Bitstream Vera um griechische Zeichen erweitert. Gegenüber anderen mir bekannten griechischen Schriftarten erweist sich die DejaVu Sans ebenfalls als eigenständiger Entwurf. Offensichtlich hat Ben Laenen, der im DejaVu-Projekt für Griechisch zuständig ist, die griechischen Zeichen auf der Basis der lateinischen Lettern neu entworfen. Im Vergleich zu Verdana oder Frutiger Linotype z. B. fällt auf, dass die griechischen Zeichen der DejaVu Sans sehr viel „runder“ sind.

Verdana und DejaVu Sans im Vergleich

Diese rundere Form macht Zeichen nicht nur gefälliger, sie kommt auch der Lesbarkeit zugute. Erstens ist die Verwechslungsgefahr geringer. So unterscheidet sich das griechische „ν“ (ny) deutlich vom lateinischen „v“. Das kleine Alpha ist nicht nur weniger plump, sondern auch deutlicher vom Omikron unterschieden. Zweitens unterstützen die runden Schwünge die waagerechte Leserichtung, während in der Verdana eindeutig die Senkrechte betont wird. Das verbessert die Zeilenführung und die Bildung von Wortbildern.

Das einzige, was mir nicht so gut gefällt, ist die Gestaltung des Zirkumflex in Form einer Tilde. Ein einfacher Bogen würde nicht nur besser zur Schriftart passen, sondern auch die Lesbarkeit bei sehr kleinen Schriftgrößen verbessern.

Umfang/Ausbau

Die DejaVu ist eine umfangreiche Schriftfamilie. Neben der serifenlosen DejaVu Sans gibt es noch die DejaVu Serif mit Serifen, beide noch zusätzlich als „Condensed“ mit etwas schmaleren Buchstaben, und schließlich die DejaVu Sans Mono als Monospaced-Schrift mit fester Zeichenbreite.

Alle diese Schriftarten gibt es in den üblichen vier Schnitten. Leider haben sie anstelle einer echten Kursiven, nur eine schräg gestellte „oblique“ Variante. Bei der DejaVu Serif gibt es zwar bereits Ansätze, die Oblique zu einer echten Kursiven umzuwandeln, aber die sind bislang nichts Halbes und nichts Ganzes.

DejaVu Sans Varianten

Inzwischen wird die DejaVu um ostasiatische Schriftsysteme erweitert, wodurch die einzelnen Schriftdateien sehr groß werden. Deshalb gibt es jetzt zusätzlich eine „LGC“-Variante, die sich auf lateinische (L), griechische (G) und kyrillische © Buchstaben beschränkt.

Die DejaVu in der Praxis

Eine Schriftart für klassisches Griechisch im modernen Gewand einer Serifenlosen mag manch einem suspekt erscheinen. Aber am Bildschirm sind Schriften ohne Serifen eindeutig besser zu lesen. Deshalb bietet sich die DejaVu Sans vor allem als Referenzschriftart für griechische Texte im Internet an, die sich jeder kostenlos herunterladen kann. Aber auch für Vortrags-Folien dürfte sie eine interessante Alternative sein.
Downloads

(Geschrieben für das Biblische Forum, unter der Originaladresse http://www.bibfor.de/?p=8 nicht mehr verfügbar)

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Kategorien Fonts, Unicode

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Die Kunst, die kreativen Leistungen anderer zum eigenen »geistigen Eigentum« zu machen, beherrscht Microsoft an sich in Perfektion. Doch der Versuch, das Design der Standardschriftart für den neuen Windows-Desktop als europäisches Geschmacksmuster schützen zu lassen, ist glücklicherweise gescheitert. Da war die Ähnlichkeit zur Frutiger und deren überarbeiteten Fassung Frutiger Next dann doch zu groß. Aber möglicherweise hätte auch diese Ähnlichkeit nicht geschadet, wenn die Firma Linotype nicht aufmerksam genug gewesen wäre, Einspruch gegen dieses »Geschmacksmuster« einzulegen.

Schon die Anfänge von Microsoft bestanden darin, Software aus der Public Domain mit den kostenlosen Ressourcen der Universität weiterzuentwickeln und unter einer restriktiven Lizenz für Geld zu verkaufen. Bis heute bedient sich Microsoft gerne aus allem, was kostenlos verfügbar ist (etwa Software, die unter einer BSD-Lizenz steht), und stellt die eigenen Produkte dann unter eine Lizenz, die den Käufern kaum Rechte einräumt. Gegen Open-Source-Software hat Microsoft nur dann etwas, wenn sie unter einer Lizenz steht, die verlangt, dass Programme die sich dieser Quellen bedienen ebenfalls als Open Source veröffentlicht werden.

Hinzu kommt, dass sich Microsoft zunehmend der Möglichkeiten der vielen neuen und veränderten Rechtstitel zum so genannten »geistigen Eigentum« bedient, Ideen anderer übernimmt, sie leicht abwandelt und dann schützen lässt.

Ein Beispiel dafür ist das Office-XML-Dateiformat, das Microsoft sich patentieren ließ, obwohl die Grundidee schon viel früher von wenig bekannten Programmen wie AbiWord oder KOffice verwendet wurde. Wahrscheinlich ist das rechtlich alles sogar in Ordnung, weil der Patentanspruch so formuliert wurde, dass die früheren Dateiformate nicht darunter fallen. Aber wenn für Patente noch der Anspruch gelten würde, dass sie über den allgemeinen Stand der Technik hinausweisen, wären diese Patente wahrscheinlich nicht möglich.

Dass Microsofts Kreativität vor allem im juristischen Bereich liegt, zeigt der Streit um die Standard-Schriftart des zukünftigen Windows-Vista-Desktops. »Segoe UI« ist eines von vielen Plagiaten der berühmten Frutiger, das sich bis in die Metriken der einzelnen Zeichen ans Vorbild hält. Im Unterschied zu anderen hat Microsoft jedoch die Dreistigkeit besessen, sich dieses Plagiat als europäisches »Geschmacksmuster« (“European Community Design”) eintragen zu lassen. Auf diese Weise würde die Kopie einen höheren rechtlichen Schutz erhalten, als ihn das Original je besessen hat. Denn das europäische »Gemeinschaftsgeschmacksmuster« gibt es erst seit dem 6. März 2002. Da war die Frutiger längst Geschichte, und auch die Frutiger Next war bereits veröffentlicht.

Kein Wunder, dass die Firma Linotype Einspruch gegen dieses »Geschmacksmuster« erhoben hat:

Bruno Steinert bekräftigte auf unser Nachfragen hin nochmals, daß der Einspruch Linotypes sich nicht auf Plagiatsvorwürfe der Frutiger bezog (die Schutzfrist für das Design der Frutiger ist abgelaufen), sondern alleine darauf basierte, daß Microsoft mit dem Antrag einen höheren Schutz für das Derivat erwirken wollte, als es das Original jemals besessen hatte.
(Ingo Preuss: Nachtrag zum Segoe UI-Frutiger-Streit, www.typeforum.de, 24. Feburar 2006)

Internetadressen zu diesem Thema:

  • Gerrit van Aaken: Neues zum Streit zwischen Linotype und Microsoft. praegnanz.de, 24. Februar 2006.
  • Ingo Preuss: Nachtrag zum Segoe UI-Frutiger-Streit. www.typeforum.de, 24. Februar 2006.
  • Ingo Preuss: Schriftendiebstahl als Prinzip? www.typeforum.de, 5. Januar 2006.
  • Jacob Klein: Der Bauch des »a«. Grafiker werfen Microsoft vor, die Standardschrift für das neue Windows Vista geklaut zu haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass solche Vorwürfe erhoben werden. In: Süddeutsche Zeitung vom 21. Dezember 2005.
  • Gerrit van Aaken: Arial geht, Segoe kommt. pragnanz.de, 5. Mai 2004, update am 21. Dezember 2005.
  • Fredrick Nader: A Second Helping. The Two Ms Do It Again. www.hardcovermedia.com, 2. Dezember 2003.

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Kategorien Urheberrecht, Unternehmen

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Die Auseinandersetzung um die Richtlinie zu »computer-implementierten Erfindungen« ist ein besonders lehrreiches Beispiel dafür, wie die Europäische Union funktioniert. Etwa die Sitzung des Europäischen Ministerrats am Montag, den 7. März 2005. Wieder einmal stand die definitive Abstimmung der Richtlinie auf der Tagesordnung. Inzwischen waren aber einige Regierungen auch formal von ihren nationalen Parlamenten aufegfordert worden, ihre Zustimmung zurückzuziehen und eine erneute Diskussion der Richtlinie zu fordern. Der luxemburgische Minister, der die Sitzung leitete, lehnte dies mit der Begründung ab, dass dadurch ein Präzedenzfall geschaffen würde, der zu Verzögerung in anderen Gesetzgebungsverfahren führen könnte.

Offensichtlich sind wir schon so weit, dass die Einhaltung eines demokratischen Verfahrens in der EU einen Präzedenzfall schaffen würde.

Worum geht’s?

Die Beratungen im Ministerrat werden mit einer informellen provisorischen Abstimmung abgeschlossen, einer so genannten »politischen Einigung«. Der formelle Beschluss erfolgt erst, nachdem der Text der Einigung in allen Sprachen der Union vorliegt und zusätzlich eine sechswöchige Frist für die Konsultation der nationalen Parlamente verstrichen ist (vgl. Art. 3 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Ministerrates). Normalerweise ist der formelle Beschluss dann nur noch eine Formsache und erfolgt ohne weitere Diskussion als sog. »A-Punkt« der Tagesordnung. Diese Regelung macht aber nur Sinn, wenn die nationalen Parlamente auch Einwände formulieren und die Regierungen dazu auffordern können, eine neue Debatte zu fordern, um diese Einwände vorzutragen. Nach Art. 3 Abs. 8 der Geschäftsordnung haben die Mitgliedsländer deshalb das Recht, die Absetzung eines A-Punktes und eine neue Diskussion darüber zu fordern.

In diesem Fall wurden drei der Regierungen, die der politischen Einigung zugestimmt hatten, nämlich die deutsche, die niederländische und die dänische, von ihren Parlamenten dazu aufgefordert, sich gegen die der Einigung zugrunde liegende Fassung der Richtlinie einzusetzen. Mehrere andere Staaten gaben ebenfalls Erklärungen ab, in denen sie sich von dem Vorschlag distanzieren. Als der dänische Vertreter in der Sitzung am 7. März 2005 von seinem Recht Gebrauch machen wollte, eine erneute Debatte zu fordern, wurde dies vom luxemburgischen Minister mit der Begründung zurückgewiesen, dass dadurch ein Präzedenzfall geschaffen würde.

Was bedeutet das?

Die Haltung der luxemburgischen Ratspräsidentschaft bedeutet,

  1. dass die nationalen Parlamente (trotz des Protocol on the role of national parliaments in the European Union) keinerlei Mitspracherecht bei der Gesetzgebung der EU haben; sie dürfen die Richtlinien später in nationales Recht umsetzen, aber keinen Einfluss auf die Gestaltung der Richtlinie nehmen.
  2. Da die »politische Einigung« in diesem Fall auch die Änderungen des Europäischen Parlaments vom 26. September 2003 ignoriert, wird das Europäische Parlament ebenfalls übergangen. Zwar muss das Parlament noch in zweiter Lesung über die Richtlinie entscheiden. Aber wenn Kommission und Rat schon das Votum der ersten Lesung ignoriert haben, steht zu befürchten, dass sie auch Tricks finden werden, um das Votum der zweiten Lesung zu umgehen. Es läuft also im Endeffekt darauf hinaus, dass der Gesetzgebungsprozess der EU jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen werden soll.
  3. Das als Präzedenzfall abgelehnte Vorgehen ist in der Geschäftsordnung des Ministerrates so vorgesehen. Außerdem wäre das ganze Procedere überflüssig, wenn eine politische Einigung automatisch zu einem formellen Beschluss führen müsste; man könnte dann direkt im Anschluss an die Beratung einen formellen Beschluss herbeiführen. Das Vorgehen der luxemburgischen Ratspräsidentschaft am 7. März würde bedeuten, dass das Regelwerk der EU nur dazu dient, Demokratie vorzutäuschen. Sobald eine Regierung wagt, davon Gebrauch zu machen, schafft dies einen Präzedenzfall.

Der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments hat noch am Montagabend eine exakte Prüfung des Vorgangs beschlossen. Meines Erachtens geht der Vorgang aber jeden an, der Wert darauf legt, dass die Gesetzgebung der EU demokratisch kontrolliert wird. Das Thema Softwarepatente mag für viele randständig sein, aber wenn demokratische Regeln in diesem Fall nicht eingehalten werden, wird dies auch in anderen Fall nicht geschehen.

Der amerikanische Wissenschaftler Lawrence Lessig kommentiert den Vorgang in seinem Weblog wie folgt:

They call it a “democracy” that they’re building in Europe. I don’t see it. Instead, they have created a government of bureaucrats, more easily captured by special interests than anything in the US.

Keine Zeit für Demokratie?

Ganz abgesehen davon, dass der Beschluss gegen die demokratischen Spielregeln der EU verstößt, stimmt schon die Prämisse nicht, dass die Einhaltung des demokratischen Verfahrens das Gesetzgebungsverfahren hinausgezögert hätte.

Denn für die Verzögerung des Verfahrens tragen anderer die Verantwortung:

  • die Europäische Kommission, die versucht hat, mit allen Mitteln einen offensichtlich nicht mehrheitsfähigen Richtlinienentwurf durchzusetzen, und
  • die deutsche Justizministerin, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es im Ministerrat zu einem faulen „Kompromiss“ kam, der nicht einmal vor ihrem eigenen Parlament standhielt.

Um den Entwurf dennoch durchzubringen hat die Kommission die Richtlinie mehrmals kurzfristig als »A-Punkt« auf die Tagesordnung des Ministerrats gesetzt – in der Hoffnung, dass es keiner merkt. Die Verzögerung, die dadurch entstanden ist, hat sie in Kauf genommen.

Die Schuld für die Verzögerung des Verfahrens liegt also nicht bei den demokratischen Verfahrensregeln, sondern bei denen, die die demokratische Kontrolle umgehen wollten.

Abgesehen davon, sollte für Demokratie keine Zeit zu schade sein.

Weitere Informationen

Weitere Informationen zu diesem Vorgang bieten die folgenden Artikel:

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Kategorien Europa, Demokratie

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»Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn
Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann
Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte
Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar
Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.
Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.
So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit
In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel
Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest
Der nicht aufging im unaufhaltsamen Wandel«
Heiner Müller, Der Horatier (1968)

I.

Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und den Pentagon von Dienstag, dem 11. September 2001, fragten viele Kommentatoren, was für ein Hass die Attentäter bewegt haben muss, um Verbrechen von solch einem (bis dahin unvorstellbaren) Ausmaß zu begehen. Aber ich denke, diese Frage vermittelt einen falschen Eindruck: als ob die Attentäter aus einem Gefühl heraus gehandelt hätten oder gar im Affekt. Denn nach allem, was wir über diese Verbrechen wissen, haben sie mit Gefühlen nur wenig zu tun.

Nicht nur, dass sie langfristig und höchst rational geplant worden sind, auch ihre Ziele waren nicht Personen, sondern Symbole einer Weltmacht. Dass dabei Menschen umkamen, war wahrscheinlich von vornherein nur im Hinblick auf den Effekt der großen Zahl von Bedeutung. Wenn man dem, was die Ermittlungsbehörden an die Öffentlichkeit dringen lassen, trauen darf, waren die Attentäter auch nicht geistig verwirrt oder psychisch labil, sondern Menschen, die ein unauffälliges Leben in Deutschland und den Vereinigten Staaten führten, ein naturwissenschaftliches Studium absolvierten bzw. abgeschlossen hatten und sich in aller Ruhe auf das Verbrechen vorbereiteten. Die Attentäter waren also nicht von einem unkontrollierbaren Hass bewegt, sondern auf einer abstrakt intellektuellen Ebene so von ihrer Sache überzeugt, dass sie den Tod Tausender Menschen allein um einer abstrakten Symbolik willen rechtfertigte und auch den eigenen Tod für die Sache in Kauf nehmen ließ. Eine solche Überzeugung setzt den Glauben an eine reine Wahrheit voraus: Eine Wahrheit, die rein ist von jedem Zweifel und deshalb jedes Gewissen rein waschen kann. Eine Wahrheit, die sich in einem völlig abstrakten Raum bewegt und deshalb gegenüber jedem Einfluss der Wirklichkeit immun ist. Eine Wahrheit, die in ihrer Reinheit religiösen Charakter hat – unabhängig davon, welche konkrete Religion sie zum Vorwand nimmt.

II.

Aber wie will man gegen einen solchen Terror vorgehen. Die normalen Mittel der Strafjustiz wirken nicht, weil die Täter sich gleich selbst mit umgebracht und dadurch der Strafverfolgung entzogen haben, während den Drahtziehern kaum etwas nachzuweisen ist, weil sie sich die Hände nicht schmutzig gemacht haben. Kein Wunder, dass jetzt viele von Vergeltung reden und selbst eine kühle NDR-Journalistin meint, das Neue Testament zur Seite legen zu müssen (wenn sie es denn je in der Hand gehabt hat), um Lev 24,19f. aufzuschlagen (wobei sie allerdings noch nicht einmal in der Lage ist, die Stelle richtig anzugeben). Aber kann man Terror mit Gegenterror beantworten? Oder wirft man dadurch nicht gleich die Werte über den Haufen, die man gegen den Terror verteidigen will? »Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt …« (so das Leitwort in Heiner Müllers Stück »Mauser«)

Manche Berichterstatter bemerken auch, dass man eine Szenerie wie in Downtown Manhattan nach dem Einschlag der beiden Verkehrsflugzeuge in das World Trade Center sonst nur aus Katastrophen- und Actionfilmen kennt. In diesen Filmen dient die Ungeheuerlichkeit des Terrors dazu, die Aktionen des Helden von jedem ethischen Skrupel zu befreien: Er erhält die Lizenz zum Töten. Die Regisseure dieser Filme wissen, dass Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie viel zu kompliziert sind, um damit alle Mittel zu rechtfertigen. Aber durch die monströsen Dimensionen des Terrors, gegen den der Held kämpft, erhält man wenigstens ex negativo ein absolutes Ziel. Am deutlichsten wird das in den James-Bond-Filmen: Schon in den sechziger Jahren ist darin die Welt viel zu kompliziert, um nach dem Schema des Kalten Kriegs in Gut und Böse aufgeteilt zu werden. Die eigentliche Gefahr geht nicht von der Sowjetunion aus, sondern von einer international operierenden Terrororganisation, an deren Spitze ein Millionär steht, der ein Doppelleben führt. Aber nicht einmal James Bond erhält seine Lizenz zum Töten zum Zweck der Vergeltung, sondern allein um in letzter Sekunde (bzw. in den letzten zwanzig Minuten des Filmes) die globale Katastrophe zu verhindern.

Aber selbst wenn sich die Regierungen der »zivilisierten Welt«, die diese Terroranschläge als Kriegserklärung auffassen, nicht durch Vergeltungsmaßnahmen und Gegenterror auf die gleiche Stufe begeben, ist es fast unmöglich, sich von den Terroristen nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen zu lassen. Schon allein deshalb, weil gegenüber einem solchen Terror alle anderen Themen zweitrangig werden, geht sehr viel an demokratischer Kultur verloren. Außerdem schränken die Sicherheitsmaßnahmen zwangsläufig auch die Bewegungsfreiheit eines jeden Bürgers ein. Darüber hinaus lehrt die Erfahrung, dass die Einschränkung demokratischer Kultur und bürgerlicher Freiheitsrechte sehr viel weiter geht. Schon gegenüber dem viel berechenbareren politischen Terror der siebziger Jahre wurden demokratische Grundrechte eingeschränkt. Alle, die eine grundsätzliche politische Kritik an der Regierung bzw. am Common Sense der politischen Parteien übten, mussten damit rechnen mit den Terroristen gleichgestellt zu werden. So müssen auch jetzt alle, die Kritik gegen die USA und die westlichen Wirtschaftsmächte erheben, damit rechnen, mit den Attentätern in eine Ecke gestellt zu werden. Die zaghafte Kritik an der Datei über linke »Gewalttäter« (in die auch Leute kommen, deren Personalien bei einer Anti-NPD-Demo festgestellt wurden) dürfte nun im Sand verlaufen. Auch die Stimmen derjenigen, die eine Verschärfung des Ausländerrechts und seiner Handhabung fordern, sind schon zu hören, obwohl doch jeder weiß, dass die Attentäter zu genau dem erlauchten Kreis von Ausländern gehören, den alle hereinlassen wollen: gebildet, an die europäische Kultur angepasst und politisch unauffällig – zumindest solange, wie sie als »Schlä­fer« in Deutschland auf ihren Einsatz warten.

Selbst wenn die NATO nicht mit einem reinen Vergeltungsangriff auf den Terror antwortet, besteht die Gefahr, dass die Maßnahmen, die gegen den Terror ergriffen werden, die Werte, die doch eigentlich verteidigt werden sollen, nach und nach aushöhlen. Auf der intellektuellen Ebene, bei der Frage, wie die Situation einzuschätzen ist, welche Maßnahmen ergriffen werden können und wie wir auf ideologischer Ebene auf den Terror und den möglichen Gegenterror (z. B. gegen Muslime in Deutschland) reagieren können, besteht das Problem darin, dass die Werte, die es zu verteidigen gilt, mit dem Konzept einer reinen Wahrheit nicht in Einklang zu bringen sind. Der reinen Wahrheit der Terroristen können wir nur eine »unreine Wahrheit« entgegenstellen: Eine Wahrheit die nicht auf eine schematische Unterscheidung von Gut und Böse aufbaut. Eine Wahrheit, die sich in Frage stellen lässt. Eine Wahrheit, die konkret ist und deshalb auch von der Wirklichkeit widerlegt werden kann.

In dem Stück von Heiner Müller, das ich oben zitiert habe, besteht die unreine Wahrheit darin, dass der Horatier für dieselbe Tat zuerst als Sieger gefeiert und dann als Schwagermörder hingerichtet wird. Die unreine Wahrheit ist so: Sie muss die widersprüchlichen Seiten der Wirklichkeit ins Auge fassen und eine Antwort finden, die nicht die eine Seite unter den Tisch kehrt.

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Kategorien Fundamentalismus, Unreine Wahrheit